Caspar David Friedrich auf der Deutschen Jahrhundertausstellung 1906
Was ist modern?1 Friedrich im Kontext der Moderne Der einsame Baum
Könnte A nicht für die erzählerischen Details niederländischer Malerei stehen, B für die Radikalität der Farbfeldmalerei und C für impressionistische Leichtigkeit? Könnte – doch in Wirklichkeit ist alles gleich modern! Die Abbildungen A, B und C zeigen nämlich alle Details aus einem einzigen Bild:
Der einsame Baum entstand im Auftrag des Berliner Bankiers Joachim H. W. Wagener. Er bestellte bei Friedrich ein Bilderpaar zum Thema der Tageszeiten. Angelehnt an die mittelalterliche Tafelmalerei spricht man auch von einem Diptychon.
Erst in der Gegenüberstellung der beiden Bilder erschließt sich ihr Inhalt: Der einsame Baum strahlt die unberührte Frische eines Morgens aus, Mondaufgang am Meer die Stille eines sich neigenden Tages. Die Landschaft wird so zur Trägerin von (subjektiver) Empfindung und Gefühl im Bild.
Zu Friedrichs Zeiten war dieser Ansatz im Sinne einer romantischen Kunsttheorie radikal modern. Prägend war dafür der Künstler und Freund Friedrichs, Philipp Otto Runge. Ihm zufolge konnten abstrakte Begriffe wie »Gott« oder »Freiheit« nicht länger in eindeutig lesbaren Bildern, zum Beispiel durch Allegorien, dargestellt werden. Stattdessen sollte die bis dahin zweitrangige Landschaftsmalerei die Einheit des Menschen mit der Natur wiederherstellen und das subjektive Gefühl transportieren.
Caspar David Friedrich war nach seinem Tod 1840 schnell in Vergessenheit geraten. Doch um die Wende zum 20. Jahrhundert änderte sich etwas – in der Kunst selbst und in der Wahrnehmung Friedrichs. Es entstand eine neue Kunst.
Sie wollte die vorherrschende abbildlich-illusionistische Malerei überwinden und andere Prinzipien von Farbe und Form erkunden. Diese moderne Kunst heißt heute Klassische Moderne.
Im Klima der künstlerischen Erneuerung empfand man Friedrich als modern, obwohl seine Kunst bereits fast 100 Jahre alt war
Damals wurde Friedrich »wiederentdeckt« – auf der Jahrhundertausstellung deutscher Kunst (1775–1875) in der Berliner Nationalgalerie. Sie zeigte zwar keine zeitgenössische Kunst, und doch wollte sie die Kunst der damaligen Gegenwart, insbesondere den Impressionismus, durch einen Blick zurück erklären, stärken und populärer machen.
2 Friedrich modern I Die Natur beobachten
1906 fanden Publikum, Kunstkritik und Kuratorium an Friedrichs Malerei besonders seinen Blick auf die Natur bemerkenswert und wie er sie mit Licht und Farbe ins Bild setzte.
Der Kunsthistoriker Ferdinand Laban schreibt nach seinem Ausstellungsbesuch 1906 über Friedrich:
Die »Wirklichkeit« in Friedrichs Bildern kommt sicher auch daher, dass der Künstler häufig vor der Natur zeichnete, also die gesehene Natur in Zeichnungen direkt übertrug. Auch in dem Gemälde Der einsame Baum verarbeitete Friedrich solche Zeichnungen nach der Natur:
Dass Friedrich beim Zeichnen in der Natur arbeitete, veranlasste Kunstkritik und Kuratoren um 1900 zu der These, Friedrich sei ein Vorläufer der Pleinair- oder Freilichtmalerei. Dieses Verfahren, bei dem Künstler*innen im Freien (französisch en plein air) malen, kam Mitte des 19. Jahrhunderts in England und Frankreich auf. Besonders der Impressionismus war davon geprägt.
Als vorwiegend französische Kunstrichtung hatte es der Impressionismus Ende des 19. Jahrhunderts in Deutschland zunächst schwer – der Deutsch-französische Krieg von 1870/71 schwang wohl noch nach. Diesem modernen Stil auch hier zu Anerkennung zu verhelfen, hatte sich Hugo von Tschudi, Direktor der Nationalgalerie, zum Ziel gesetzt. Zugleich wollte er damit seine europäisch ausgerichtete Erwerbungspolitik legitimieren.
Der Direktor der Berliner Nationalgalerie, Hugo von Tschudi, schreibt im Ausstellungskatalog:
3 Friedrich modern II Licht und Farbe
Begleitend zur Deutschen Jahrhundertausstellung erschien ein umfangreicher Ausstellungskatalog, in dem der Kunstautor Julius Meier-Graefe zu jedem Werk einen knappen Text formulierte. Viele Werke wurden zusätzlich in schwarz-weiß abgedruckt – so auch der Einsame Baum. Meier-Graefe hob in seiner Werkbeschreibung besonders die Farben des Bildes hervor:
Gegenüberstellung einer Digitalaufnahme des Gemäldes Der einsame Baum und einer schwarz-weiß-Abbildung aus dem originalen Ausstellungskatalog von 1906 (Repro-Foto: Christoph Irrgang)
Auch die Kunstkritik betonte die besondere Qualität von Licht und Farbe bei Friedrich. Über Der einsame Baum (damals noch mit dem Titel Harzlandschaft) schrieb ein Kritiker 1906 begeistert:
4 Den Kanon Aufbrechen Die Deutsche Jahrhundertausstellung in der Nationalgalerie
Nationalgalerie, Berlin, Ansicht von Osten, links das Neue Museum, Aufnahme 1881
Mit der Deutschen Jahrhundertausstellung wird Caspar David Friedrich 1906 wiederentdeckt. Viele seiner Werke waren zu dem Zeitpunkt noch in Familienbesitz. Andere befanden sich in Privatsammlungen. Nur wenige seiner Bilder waren als Teil von Museen öffentlich zugänglich.
Dazu gehört das Bilderpaar Der einsame Baum und Mondaufgang am Meer in der Berliner Nationalgalerie.
Das ist dem Berliner Bankier und Sammler Joachim Heinrich Wilhelm Wagener zu verdanken. In seinem Testament vermachte er seine Kunstsammlung 1861 dem preußischen König – unter der Bedingung, dass dieser eine Nationalgalerie errichte. So wurde die Sammlung Wagener, und mit ihr Der einsame Baum von Caspar David Friedrich, zum Grundstein der heutigen Alten Nationalgalerie in Berlin.
Schon der Gründungsgedanke stand im Geist der Moderne: Die Nationalgalerie wurde mit ihrer Öffnung 1876 das erste Museum auf nationaler Ebene für zeitgenössische Kunst.
Als Teil der Wagenerschen Sammlung ging auch Friedrichs Bildpaar im Bestand der Nationalgalerie auf und war dort ab 1876 permanent ausgestellt.
Dazu heißt es im Katalog zur Deutschen Jahrhundertausstellung:
»Die Nationalgalerie hat in ihrem alten Bestand zwei Bilder und ein drittes wurde vor wenigen Jahren dazu gekauft, auch für die [Hamburger] Kunsthalle wurden in der letzten Zeit mehrere Werke von ihm erworben und ein andres, eines der schönsten, hängt seit langem im Weimarer Museum. Aber sie sprechen eine so leise Sprache, dass das eilige Galeriepublikum achtlos daran vorüberging.«
– Hugo von Tschudi, in: Ausst.-Kat. Nationalgalerie, Berlin 1906, Bd. 1, S. XXVIf.
Blick in die Ausstellung der Nationalgalerie, westlicher Saal mit Werken aus der Sammlung Wagener, Aufnahme 1879
Bahnbrechend modern: das Konzept der Deutschen Jahrhundertausstellung
Nach französischem Vorbild sollte die Ausstellung eine Übersicht über 100 Jahre Kunst in Deutschland geben. Insbesondere Künstler*innen, die nicht dem akademischen Geschmack folgten, weniger erfolgreich oder weniger bekannt waren, sollten hier eine Bühne bekommen.
Der Zeitraum 1775–1875 war wohl ganz bewusst gewählt, um dem Establishment des Berliner Kunstbetriebs um 1900 nicht zu nahe zu treten.
Nicht ohne Komplikationen kuratierten die Ausstellung letztlich: Hugo von Tschudi, Direktor der Nationalgalerie Berlin, Alfred Lichtwark, Direktor der Hamburger Kunsthalle, und Woldemar von Seidlitz, Vortragender Rat in der Generaldirektion der Königlichen Sammlungen in Dresden. Auch der Kunstschriftsteller Julius Meier-Graefe war beteiligt.
Als Gegenpol zur vorherrschenden Malerei, der vom Inhalt dominierten Historienmalerei, schlugen die Kuratoren mit ihrer Werkauswahl eine andere Lesart der Kunstgeschichte vor. Sie suchten in der deutschen Kunstproduktion von 100 Jahren nach einer Kunstentwicklung nach malerischen Kriterien, dem Umgang mit Fläche, Farbe, Licht.
5 Caspar David Friedrich auf der Deutschen Jahrhundertausstellung Die Sensation des Jahrhunderts
Die größte Entdeckung der Ausstellung war Caspar David Friedrich. Insgesamt 93 seiner Gemälde und Zeichnungen wurden präsentiert. 36 Gemälde hingen in zwei Kabinetten in der zweiten Etage der Nationalgalerie, 57 Zeichnungen in den Räumen des Neuen Museums.
Grundriss der Nationalgalerie mit Raumplan der Deutschen Jahrhundertausstellung 1906
Auf Friedrich aufmerksam geworden waren die Kuratoren Lichtwark und Tschudi durch den norwegischen Kunsthistoriker Andreas Aubert. Als erster publizierte er 1893 über den Künstler, 1895 erschien das Friedrich-Kapitel auf Deutsch.
Eigentlich beschäftigte sich Aubert mit dem norwegischen Landschaftsmaler Johann Christian Clausen Dahl, über den er Friedrich entdeckte. Die beiden Künstler hatten in Dresden jahrelang im selben Haus gewohnt und waren eng befreundet.
Peter Behrens, Ausstellungsgestaltung für die Deutsche Jahrhundertausstellung 1906: zweite Etage, Caspar David Friedrich-Raum
Revolutionär war auch die Art der Präsentation: In nur zwei Reihen übereinander gehängt und auf weißem Grund. Die Geburt des White Cube?!
Die starke Wirkkraft von Friedrichs Bildern beschrieb der Direktor der Hamburger Kunsthalle, Alfred Lichtwark, in einem Brief:
6 Die Macht von Ausstellungen Wer bestimmt den Kanon?
Viele Kunstkritiker*innen feierten die neu entdeckten Künstler*innen. Manche wiederum kritisierten (anonym) das kuratorische Konzept scharf:
Diese Herausforderung beschäftigt Kurator*innen und Sammler*innen auch heute. Ein Kriterium für Ankauf oder Ausstellung ist dabei nach wie vor der Aspekt, wie »modern«, wie aktuell ein Kunstwerk ist: Was verrät das Werk über uns heute?
Internet und Social Media erweitern den etablierten Kanon weiter, geben ungehörten Stimmen Gehör, ermöglichen alternative Blicke – und beeinflussen so unseren Blick darauf, was Kunst ist.
Mit der Deutschen Jahrhundertausstellung hatten die Kuratoren ihr Ziel erreicht: Mit Impulsen der zeitgenössischen Kunst – allen voran des Impressionismus – ein Jahrhundert deutscher Kunst neu zu befragen und mit den vorgestellten Positionen den Kunstkanon ihrer Zeit aufzubrechen. Längst sind die sensationellen Entdeckungen von einst Teil unseres westlichen Museumskanons geworden. Die Bildwelten des ehemals vergessenen Caspar David Friedrich weltbekannt.
Wer weiß, wie populär Friedrichs Landschaften heute ohne die Deutsche Jahrhundertausstellung wären?